Mit "neue Wirklichkeit" wird das Leben im Shutdown angesichts der Corona-Pandemie häufig umschrieben und ich frage mich immer wieder, was daran neu ist. Klar, auch mir ist nicht entgangen, dass Restaurants, Kneipen, Geschäfte, Fitnessstudios, Schulen, Kindergärten und vieles mehr schließen mussten und noch immer ihren Betrieb nicht wieder vollständig aufnehmen konnten; Mund-Nasen-Schutz, Abstand und keine großen Feiern oder Veranstaltungen. Ja, all dies ist mir bekannt und halte ich ein, dennoch bleibt für mich die Frage was daran so wirklich neu ist. Ich glaube für viele Menschen mit Beeinträchtigungen ist dies so neu nicht wirklich. Ich behaupte, dass dies für viele Menschen unter uns schon lange Lebenswirklichkeit ist und hoffe, dass diese Pandemie vielleicht auch eine Chance sein könnte, das Thema Inklusion neu zu kommunizieren.
Ups, Pandemie, Inklusion … vermutlich haben einige den Beitrag jetzt schon weggeklickt. Weder ein Virus noch Inklusion sind für viele Menschen sexy Themen oder versprechen einen locker flockigen Beitrag. Dennoch hoffe ich, dass du neugierig genug bist um weiter zu lesen.
Wie in all meinen anderen Beiträgen geht es mir nicht um einen Fingerzeig auf andere. Ich berichte aus meinem Leben, über meine Gedanken. Mir ist durchaus bewusst, dass es auch viele Menschen gibt, die die Wochen des Shutdowns ganz anders erleben und damit weniger gut zurechtkommen. Psychische Beeinträchtigungen, familiäre Probleme oder existenzielle Sorgen … Gründe gibt es genug.
Kommen wir nun aber zu meiner Wirklichkeit und dazu, was es aus meiner Sicht mit Inklusion zu tun hat beziehungsweise haben könnte.
Meine alte neue Wirklichkeit
Die Wirklichkeit ändert sich derzeit wöchentlich. Inzwischen erfahren wir nach und nach Lockerungen und ich höre das befreite Aufatmen vieler Mitmenschen. Ich empfinde es hingegen nicht als befreiend. Noch immer ist der Virus auf seiner Durchreise und noch immer gibt es keinen Impfstoff. Die Bilder aus unseren Nachbarländern Italien und Frankreich sind in meinem Kopf noch immer so präsent, dass jeglicher Wunsch nach Kino- oder Kneipenbesuchen im Keim erstickt.
Woher kommt also dieses befreite Aufatmen vieler Mitmenschen? Auch sie haben die Bilder gesehen, auch sie haben Familie und Freunde, denen sie sicher nichts Böses wünschen. Vielleicht steckt ein Teil der Antwort in dieser Aussage: Weil sie es können!
Vieles kann ich einfach nicht oder nicht so unkompliziert wie meine sehenden Mitmenschen. Wenn ich beispielsweise in die Sauna möchte, fällt mir da zunächst der heiße Ofen ein und ich überlege mir daher wen ich als sehende Begleitung anheuere. Also, Sonntag und Schmuddelwetter, Tasche packen und los … vergiss es. So eine Sache muss schon mit ein wenig Vorlauf geplant sein. Selbst wenn ich meinen ganzen Mut zusammen nehme und doch alleine losziehe, wird es nicht einfacher. Das erfordert dann nämlich volle Konzentration auf die mir noch verbleibenden Sinne. Sieht so ein entspannter Saunanachmittag aus?
Mit einer Freundin, die im Rollstuhl sitzt, ins neue Szene-Café oder ins Kino? Gerne, aber erst mal nachfragen, wie es dort mit der Barrierefreiheit so aussieht.
Das was also derzeit für viele Menschen der Shutdown bedeutet, sind für mich die Barrieren und du glaubst ja nicht, wo die alle lauern … ach doch, als aufmerksamer Leser dieses Blogs kennst du bestimmt auch schon den Beitrag Sommerzeit ist Reisezeit 2.
Ich habe also vor gut zwanzig Jahren schon meinen ganz persönlichen Shutdown erlebt. Inzwischen habe ich mein Leben so eingerichtet, dass ich dennoch aus voller Überzeugung behaupte, dass ich ein weitestgehend selbstbestimmtes und erfülltes Leben führe. Wie du in anderen Beiträgen lesen kannst gehe ich gerne in die Arena um die Atmosphäre bei Handballspielen zu genießen, ich gehe in Restaurants und Kneipen, ins Kino und ich Reise sehr gerne. Weder die Blindheit noch die Barrieren können mich daran hindern. Ich habe inzwischen Wege gefunden und mich zum Organisationstalent gemausert und vor allem habe ich gelernt, dass nicht immer alles so geht wie ich es gerade gerne möchte.
Was ist nun die Moral aus all dem?
Der Shutdown hat uns in den vergangenen Wochen alle behindert. Unser Leben stand still und jetzt mit den Lockerungen kommt nachvollziehbarer Weise das große Aufatmen. Für mich bleiben allerdings die Barrieren. Klar, auch ich kann wieder in die Sauna oder mit einer Freundin im Rollstuhl in die Kneipe. Das heißt, das muss ich ja erst noch mal klären. Du weißt schon, die Stufen, der heiße Ofen …
Ich behaupte also, dass was ein Impfstoff gegen den Virus für uns derzeit bedeutet, bedeutet Inklusion für Menschen mit Beeinträchtigungen, ältere Menschen, Familien mit Kinderwagen, Reisende mit schwerem Gepäck … letztlich für uns alle.
Während nun also viele wieder langsam aufatmen, warte ich noch immer auf die neue Wirklichkeit und ich würde mich freuen, wenn dieser Beitrag und die Erfahrungen der letzten Wochen vielleicht den ein oder anderen zum Nachdenken anregen. Inklusion ist nämlich viel mehr als eine schöne oder phantastische Vision. Inklusion verspricht ein buntes Leben mit Restaurant- und Kinobesuchen, Sauna- und Freizeitspass für alle!